Immer wieder höre ich: „Barrierefreiheit, dass ist ja das für die Blinden“. Es erzeugt nur Mehrkosten und bringt keinen Mehrwert. Weit gefehlt! Barrierefreies Denken und Publizieren bringt erhebliche Vorteile, für alle.
Schon des Öfteren habe ich mich zu diesem Standpunkt geäußert, hier im Blog, auf anderen Kanälen und in all meinen Schulungen und Vorträgen. Ich greife das Thema einmal mehr auf, da Interessantes aus diesem Bereich auf der letzte Woche stattfinden Google I/O Konferenz thematisiert wurde (Beitrag auf heise.de). Im Detail geht es darum, dass Google seinem Betriebssystem für Mobiltelefone Android eine Möglichkeit spendieren möchte, Geräte zu nutzen, ohne diese zu berühren. Die Touch Bedienung soll oder muss vielmehr daher durch andere Möglichkeiten ersetzt werden. Übertragen lässt sich das Konzept der alternativen Steuerung auch auf alle anderen Geräteklassen – dieser Text wurde von mir beispielsweise nicht geschrieben, sondern über eine Software eingesprochen.
Was hat dies nun mit Barrierefreiheit zu tun? Eine Bedienung von Touch Devices, also eines Smartphones oder Tablets, funktioniert nur, wenn man auf dem Gerät sieht, was man anklicken kann oder möchte. Da denken die meisten sicherlich wieder an die Blinden, die nun einmal nicht sehen, was sie anklicken sollen. Diese spezielle Zielgruppe wird in solchen Fällen leider oft als Referenzgruppe bemüht. Sie stellen aber eine sehr kleine Zielgruppe dar, die schnell als zu klein und daher unwichtig abgetan wird. Sie werden sehen, das greift gerade in diesem Fall viel zu kurz. Weitaus größer ist die Zielgruppe der Sehenden, die von angedachten Verebsserungen profitieren. Hier geht es um alle Menschen die einfach keine Zeit oder Hand frei haben, das Gerät in die Hand zu nehmen und auf dem „klassischen“ Wege zu bedienen. Das gilt vor allem für alle Autofahrer, wie auch jeden der mit voll gepackten Taschen vom Einkaufen kommt. Man sieht hier: Smartphones haben Nutzungsbarrieren für jedermann, es ist nur eine Frage der Perspektive!
Google zeigt hier auf hervorragende Weise, dass Funktionen die der Barrierefreiheit dienen, einen weitaus größeren Nutzen für alle User bieten. Hier kann man Technologie- und Internetfirmen nur gratulieren und ihnen zugutehalten, dass sie nicht in beschränkten Bahnen denken, sondern das Große Ganze im Blick haben. Und das bedeutet letztendlich, dass es die natürlichen Barrieren, die es für alle Nutzer gibt, von Firmen wie Google erkannt und beseitigt werden – das nicht aus reiner Nettigkeit, sondern aus Sicht der Umsatzsteigerung eines Wirtschaftsunternehmens.
Die Publisherwelt
Im Bereich des klassischen Publizierens ist es nicht großartig anders. Hier gibt es für alle Nutzer Barrieren, die abgebaut werden müssen. Ein Start hierfür ist gutes Design (gelbe Schrift auf orangenen Grund ist für niemanden gut lesbar). Aber es geht auch darüber hinaus.
Verstanden haben dies viele Publisher, die crossmedial tätig sind. Hier reicht es nicht Inhalte auf einer A4 Seite darzustellen, sondern die Inhalte müssen gleichzeitig in allen Kanälen funktionieren. UX-Design (User Experience) Ist daher in diesem Bereich ein stark wachsendes Geschäft. Die Weiterführung dessen ist die Anreicherung von Inhalten mit Zusatzinformationen, beispielsweise Semantik und Metadaten.
Warum barrierefrei publizieren?
Der Druck barrierefrei zu publizieren, existiert aktuell leider noch zu wenig. Gute Ansätze gibt es zwar in der Gesetzgebung (bspw. BITV 2.0), aber die Umsetzung erfolgt nicht mit der notwendigen Vehemenz. Ich hoffe hier auf mehr Druck aus der Wirtschaft. Ein Beispiel hierfür ist ein Projekt, in dem ich vor nicht allzu langer Zeit tätig war:
Eine Firma aus der Finanzwirtschaft stellt jeden Tag Dossiers im PDF-Format mit aktuellen Neuigkeiten für die führenden Angestellten zur Sichtung zur Verfügung. Von den Nutzern dieser Daten kam jedoch das Feedback, dass das Lesen der Dokumente zu viel Zeit in Anspruch nimmt. Die Lösung des Problems lag im Einsatz von barrierefreien Dokumenten. Das Dossier wird jetzt jeden Tag als barrierefreies PDF erstellt, und den Empfängern auf Smartphone oder Tablett zur Verfügung gestellt, wo sie sich mit einer speziellen App die Inhalte vorlesen lassen können. Dadurch fordert es weniger Aufmerksamkeit und das Endgerät ist zur Darstellung von unterschiedlichen PDF-Größen nicht mehr relevant.
Ich hoffe dieses Denken über die Mediengrenzen und Zielgruppenbeschränkungen hinweg, wird sich auch bei klassischen Textern, Grafikern, Mediengestaltern und weiteren Herstellern durchsetzen, sodass bald das Produzieren barrierefreier Inhalte eine Selbstverständlichkeit sein wird. Denn im Grunde sind barrierefreie und damit zugängliche Dokumente Abfallprodukte guter Publishingprozesse.